Für jedes neue Jahr, das ich mit erleben darf, brauche ich drei Sorten von Kalendern: den nüchternen Terminkalender, den Fotokalender der Aktion „Brot für die Welt“, der mich mit meinen Zeitgenossen in aller Welt verbindet und mindestens einen Fotokalender mit erlesenen Tierfotos, von der Mücke bis zum Elefanten.
Ja, bei Tierfotos der Meisterklasse werde ich gierig. Anno 2013 hingen bei mir allein fünf Kalender verteilt auf die Zimmer unserer großzügigen Mietwohnung.
So ab Ende September, wenn Warenhäuser und Buchhandlungen ihre Kalenderkollektionen fürs kommende Jahr präsentieren, fange ich an zu stöbern. Ein, zwei Favoriten stehen von vorn herein fest. Ansonsten lasse ich ich mich überraschen.
Auch dieser Ständer, den sie mir im City-Center da in den Weg gerollt haben, weckt mein Interesse: auf allen vier Seiten von oben bis unten behängt mit Tierfoto-Kalendern im handlichen Quadrat-Format, so ungefähr 35 x 35 cm Zentimeter. Das geballte Angebot eines spezialisierten Verlages. Etwas für die kleinen Ecken im Bad, im Vorflur, im Treppenhaus; jeder Kalender zum Kampfpreis von 4,99 Euro. Hund und Katze sind gleich mehrfach vertreten. Ansonsten die übliche Promi-Liste von Pferden und Elefanten, über Delfine, Esel und Kaninchen, bis zu Tierkindern, bunt gemischt und Meerschweinchen-Allerlei. Dazwischen ein paar Themenkalender, die den Blick auf das freie Tierleben um uns herum lenken. Einheimische Frösche, einheimische Reptilien, einheimische Singvögel. Letzteres, allenfalls, könnte mich interessieren. Das eine oder andere dieser Mitgeschöpfe nimmt sich ja Wohnung in dem alten Pfarrgarten unseres Dorfes.
Aber dann merke ich, wie meine Kauflust plötzlich dahin welkt. Zum einen liegt das an diesem geballten Überangebot. Schönes in Masse wirkt fad. Aber da grummelt noch etwas anderes. Wo sind denn die Lebensräume für all diese angeblich heimischen Tiere?
Im Horizont unseres Küchenfensters im 1. Stock hat ein Investor neulich mehrere alte Bauernhöfe abgerissen und parzelliert. Das Geschäft lief wie geschmiert. Überall haben die privaten Bauherren inzwischen ihren Familientraum vom Eigenheim in die Tat umgesetzt. Nette Leute wie du und ich, nur eben 35 Jahre jünger. Die noch fehlende Vegetation hat zur Folge, dass ich den neuen Nachbarn bis in die Magengrube sehen kann; es sei denn, ich verbiete mir den Blick aus dem Küchenfenster.
Natürlich haben auch die Menschenkinder, die auf diesen gar nicht so kleinen Eigenheim-Grundstücken heranwachsen, ein eher tristes Spielumfeld. Aber als Igel möchte ich mich erst recht nicht vom Pfarrgarten in diese neue Eigenheimsiedlung verlaufen. Weit und breit keine Deckung, kein Gebüsch, keine Himbeerhecke, kein Birnbaum, kein Flecken Gartenland, auf dem ein Mischköstler wie er auf seine Kosten käme.
Wenn schon ein ziemlich anpassungsfähiger Geselle wie mein Igel in unserem dörflichen Neubauparadies verhungern muss, was ist dann mit der Erdkröte oder all den Allerwelts-Singvögeln? Der einzige nasse Fleck, den ich vor dem Fenster entdecken kann, ist ein Pool. Seinen stolzen Besitzern erlaubt er drei Züge rechts, drei Züge links. Kröten brauchen eine andere Kinderstube. Eine Liste möglicher Nistplätze für unsere Vögel werde ich gar nicht erst zu schreiben versuchen: vis-á-vis weit und breit keine jungen Bäume und Büsche, die wenigstens Hoffnung für künftige Jahrzehnte wecken könnten. Exotisches blätterloses Baumarktgestrüpp, mit dem Amsel, Drossel, Fink und Star, selbst Rotkehlchen, Meise und Spatz nichts anzufangen wissen. Brutvogelfreie Zone, garantiert.
Ich weiß, ich bin ungerecht, denn viele Eigenheimer, denen ich nicht hinters Häuschen gucken kann, behandeln all diese einheimischen tierischen Fotomodelle um keinen Deut besser. Alle, na sagen wir, fast alle, mögen sie Vogelgezwitscher und den Anblick unserer sommerlichen Schwalbengeschwader beim Abendbrotflug. Aber ihre Wohnung und ihre Speisekammer sollen sich die Gefiederten gefälligst bei den Nachbarn oder draußen in der Maissteppe suchen. Da ist ja Platz genug.
Nein, so wie wir uns freiwillig eine dörfliche Neubausiedlung Anno 2013 zurechtstutzen, ganz ohne die Zwänge städtischer Bauweise, werden die Portraits einheimischer Singvögel im Fotokalender zum Alibi. Oder zum Surrogat, zur mühelosen Ersatzdroge für schöpfungsvergessene Menschen, die eben doch nicht ganz ohne den Anblick von Piepmatz und Regenwurm können.
Anno 2014 sollte ich mich wirklich besser um Baumschutz und Lebensraumverteidigung draußen vor der Tür kümmern, als unserer aussterbenden Singvogelwelt in Fotokalendern nachzutrauern.