70 Jahre und drei Tage nach dem Inferno vom 16. Januar 1945 werden in den Straßen von Magdeburg zwei Demonstrationszüge unterwegs sein. Die Menschen werden sich zu zwei weitgehend unvereinbaren Leitbildern für unsere Gesellschaft bekennen. Aber niemand muss die Polizei fürchten, so lange er sie ihre Arbeit machen lässt; schon gar nicht eine Gestapo oder eine Stasi. Alle werden später ein Dach über dem Kopf haben. Ob pro oder contra großzügiger Flüchtlingspolitik und Religionsfreiheit: alle, die das möchten, werden nach ihren Willensbekundungen in der ehemaligen Trümmerwüste ein freundliches Lokal finden, wo sie Nachlese halten können. Magdeburg 2015, das ist nicht Aleppo in Syrien oder Donezk in der Ukraine.
Ein Zugereister wie unsereins ist auch keinen Deut schlauer als die Einheimischen. Er wundert sich halt nur hin und wieder ein wenig, wie alle Zugereisten überall. Kommt er aus dem Kohlenpott, dem ehemaligen, dann wundert er sich unvermeidlich über diese Ausländer-Antipathie fast ohne Ausländer, verglichen mit den Arbeitervierteln von Duisburg bis Castrop-Rauxel. Natürlich waren unsere Ausländer – damals waren sie´s rechtlich noch – mehrheitlich Türken, also Muslime. Wir hatten sie ja in voller Absicht geholt. Kein Tag meines Pastorenlebens seit 1965 ohne türkische Muslime im Gemeindegebiet, Jahr für Jahr mehr.
Meine lustigste interreligiöse Panne hat sich an einem Ostermorgen so um 1980 zugetragen. Wir hatten eingeladen zum Ostereiersuchen nach dem Kindergottesdienst rund um die Johanniskirche. Die Kirche, eine dieser für das Revier typischen Kaiser-Wilhelm-Backsteinkirchen, liegt direkt neben unserem Klein-Istanbul, damals zu erkennen an den Schnauzbärten der Kumpel und den meist in allen Ehren verbeulten Ford-Transits am Straßenrand. Klar doch, dass die Kleinen von dem Event in der Christenmoschee Wind bekamen. Prompt sehe ich, aus der Sakristei kommend, die ersten drei Bänke auf jeder Seite pickepacke voll mit Türkenkindern.
Machen wir´s kurz: der Iman hat Stress gemacht und einige Väter vorgeschickt. Ich habe meine schneeweiße Unschuld beteuert. Unser Kompromiss: nächstes Jahr dürfen die türkischen Kinder natürlich wieder kommen. Aber sie warten vor der Kirche, bis die evangelischen Kinder rauskommen. So ist es geschehen, mit dem Nebeneffekt, dass für die deutschen Kinder kaum Eier übrig geblieben sind. Die kleinen Mustafas hatten die Lage vorher gepeilt und dann nach dem Startschuss in Minutenschnelle abgeräumt.
Mit solchen Erlebnissen, die das Zusammenleben schreibt, im Gepäck, tut man sich in Ostdeutschland Großstädten etwas schwer, die erfahrungsarme Muslimphobie zu tolerieren, auch nach mehr als zehn Jahren Eingewöhnung noch. Sollte es so sein, dass manche in dem einen der beiden Demonstrationszüge, von den Veranstaltern „Spaziergang“ genannt, eine Illusion spazieren tragen werden? „Wir sind die Russen losgeworden. Wenn wir lange genug quengeln, werden wir auch die Türken irgendwie loswerden.“ Sollte dem so sein, dann wird die Sache gefährlich. Die von türkischer Sprache und Kultur geprägten deutschen Muslime sind und bleiben Deutsche. Wie hoch wir den Preis für diese Erkenntnis treiben, liegt an uns allen. Eine bittere Erkenntnis ist es in keinem Fall.
Zornig macht mich die andere Zutat, die bei vergleichbaren „Spaziergängen“ zu sehen und zu hören ist. Diese von keinerlei Erfahrung gezügelten Wutausbrüche gegen Flüchtlinge, die in Deutschland „etwas Besseres suchen als den Tod“, um die Bremer Stadtmusikanten zu zitieren. Der Asylantrag als quasi krimineller Akt, als Verabredung zu organisierter Betrugs-Kriminalität.
Auch als Zugereister kenne ich die Kirche von Magdeburg inzwischen gut genug, um zu wissen, dass rechts und links des Breiten Wegs eine Reihe von Arbeitsstellen zu finden sind, wo man die Wahrheit über Fluchtgründe und Flüchtlingsschicksale kennt. Spaziergängern, die sich für mehr als für dumpfe Parolen interessieren, kann hier geholfen werden. Eine Sachkenntnis, auf die die Kirchen selbstverständlich kein Monopol haben. Aber herausfragen aus dem Irrgarten der Vorurteile muss man sich schon selber. Wie heißt es doch in der Sesamstraße: „Wer nicht fragt, bleibt dumm!“
70 Jahre und drei Tage nach der Verheerung, die die Logik des Nazikrieges über die Stadt gebracht hat, werden wir einander aushalten können, einander aushalten müssen. Aber auch nicht einfach alles so laufen lassen, wie es läuft. Dafür ist das bedrückende Flackern hinter dem machtpolitischen Panorama unserer Tage doch zu typisch.