Medizinische Fachzeitschriften sind für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Deshalb irritiert es mich, dass ich die Zusammenfassung eines Aufsatzes aus dem berühmten englischsprachigen Organ „Lancet“ offenbar ohne große Mühe verstehe: Menschen, die als Babys lange gestillt worden sind, erfreuen sich im Erwachsenenleben eines höheren IQs, haben es durchschnittlich auf ein dreiviertel Jahr mehr an Schulbildung und nicht zuletzt zu einem höheren Kontostand gebracht. Das alles nach der Logik, je länger, um so besser; je kürzer, um so mickeriger.
Wie es sich für eine naturwissenschaftliche Versuchsbeschreibung gehört, kann ich allgemein verständlich nachlesen, wieso alles mit rechten Dingen zugegangen ist; wie man den Einfluss von Bildung und Sozialstatus der Elternhäuser sorgfältig herausgerechnet hat. So kann das Team einer brasilianischen Universität der Menschheit via „Lancet“ im Jahr 2015 also erstmals mitteilen, dass sich der Segen der Mutterbrust bei Dreißigjährigen wissenschaftlich sauber beweisen lässt.
Wenn ich die Noten der höheren Bildungsabschlüsse unserer Kinder richtig in Erinnerung habe, kann ich diese mit den mir erinnerlichen Stillzeiten zwar nicht vollends überzeugend zur Deckung bringen – aber alles in allem will ich mich als medizinischer Laie nicht mit den Gelehrten streiten.
Zumal der Kampf um den Vorrang des Stillens vor der Flasche eine meiner Einstiegserfahrungen in die globale Gerechtigkeitsarbeit gewesen ist. Ab 1974 kämpfte die junge Eine-, damals Dritte-, Welt-Soliszene unter dem Kampfruf „Nestlé tötet Babys“ mit harten Bandagen gegen den Ernährungs-Multi. Und der Riese wehrte sich wütend. Es ging um eine hinterhältige Werbung, mit der afrikanische Mütter ohne Not vom Stillen zum flaschenweisen Abfüllen ihrer Babies verführt werden sollten. Die Fata Morgana vom Lebensglück der Flaschenkinder führte zu ungezählten tragischen Fehlentscheidungen. Vor allem die Armut der jungen Familien und Hygieneprobleme ballten sich zu einer bösen Bilanz. Der Kampf um Kompromisse zwischen Industrie und Nichtregierungsorganisationen währte viele Jahre. Auch die Entwicklungsorganisationen der Kirchen trompeteten wacker: „Breast is best!“
Allerdings sind es gerade diese Lernerfahrungen, die meine Bewunderung für den jüngsten Triumph der Medizinstatistik dämpfen. Niemand wird ernsthaft Forschungsgelder beantragen zu der Fragestellung, ob die Sonne auch wirklich im Osten aufgeht. Was die Qualität der Milch der Homo sapiens-Weibchen angeht, liegen die Dinge wohl ähnlich.
Ich gehöre zu den Christenmenschen, die sich bei der Schöpferin/dem Schöpfer begeistert dafür bedanken, dass er Charles Darwin den Evolutions-Floh ins Ohr gesetzt hat. Dies ebenso zufällige wie wunderbare Geschehen führt u.a. auch dazu, dass an der Milchbar der Säugetiere, also unserer biologischen Kleinfamilie, alle Jungen den Drink bekommen, der ihrer Fitness am meisten dient. Mama Seehund und Mama Mensch könnten sich über die Rezeptur nie einig werden. Da wird es dann zu einer Frage alltäglicher Logik, dass nichts dem Gesetz des „Survival of the Fittest“ mehr gerecht wird, als der Start-Up-Drink, der sich in Abermilliarden von Testläufen durchgesetzt hat. Jeder Ersatz bleibt ein Ersatz. Auch die Werbung für Flaschenmilch ist so vernünftig, dass sie das heute in ihren Botschaften respektiert.
Die brasilianischen Mediziner täten sicher gut daran, wenn sie sich für ein Anschlussprojekt mit den Soziologen, den Armutsforscherinnen zusammen täten. Denn wenn jedes Baby ausreichend lange an die Mutterbrust gehört, dann müssen vorher noch eine Menge Hindernisse aus dem Weg geräumt werden. Dann dürfen Mütter nicht so verarmen, dass ihr Körper nicht mehr geben kann, was Herz und Verstand den Kleinen geben möchten. Dann muss die statistisch zweifelsfrei nachgewiesene Benachteiligung von Frauen bei der Gesundheitsversorgung überwunden werden. Dann darf das Heer der jungen Mütter in den Weltmarktfabriken nicht länger knallhart daran gehindert werden, für ihre Babys Zeit zu haben. Hinter manchen KiK-Schnäppchen kann sich nicht nur eine Frauen-, sondern auch eine Säuglingstragödie verbergen. Außerdem müssen vor allem Männer überall begreifen und beherzigen, dass Frauen ein Kind zuerst mit dem Herzen annehmen müssen, dass sie also nicht ertragen können, wenn über ihren Körper verfügt wird, aus welchen Motiven, gemäß welchen Traditionen und mit welchen Gewaltanteilen auch immer.
Und wenn dies alles erreicht wäre, sind die idyllischen Stillszenen, an die ich erinnere, immer noch nur ein Teil der Wirklichkeit. Auch dann werden so viele Babys Kriege, Fluchten, Gefangenschaften nur überleben, weil ihre Mütter ihr Leben festhalten konnten!