Angenommen, bei der „Formel 1“ handelt es sich wirklich um Sport und nicht um eine von der Kundschaft bezahlte Vitaminkur für die nicht mehr ganz zeitgemäße Autoindustrie, dann ist das ein neues Kapitel in der Skandalchronik „Sport und Politik“:
da hat der milliardenschwere Boss des Boliden-Zirkus´ erneut ein Rennen im Öl-Inselstaat Bahrein auf den Terminkalender gesetzt. Letztes Jahr kam ja was dazwischen: der hartnäckige Protest der schiitischen Bevölkerungsmehrheit gegen die Willkür des sunnitischen Herrscherhauses. Die Sache ließ sich am Ende nur noch mit saudischen Leihpanzern, teilweise Made in Germany, regeln. Aber für ein Autorennen stimmte das Ambiente einfach nicht mehr, Absage.
2012 haben sie´s jetzt durchgezogen. Formel 1-Bosse und Ölstaat-Bosse waren sich einig, dem Volkszorn samt seinen hässlichen Bildern zum Trotz.
In den Tagen unmittelbar davor und danach hat unser Weltmeister Sebastian mir leid getan. Gebunden durch atemberaubend honorierte Verträge musste er auf Journalistenfragen etliche Male das alte Liedchen singen; sinngemäß: alles sehr schwierig, aber Sport und Politik haben nun mal nichts miteinander zu tun.
Er wird es besser wissen. Hoffentlich hat er schon in der Schule von dem diesbezüglichen Sündenfall des modernen Sportbetriebes erfahren. Als nämlich die Jugend der Welt 1936 zum Teil mit Hitlergruß im Berliner Olympiastadion am Führer vorbeizog. Den gigantischen Imagegewinn bezahlte der sogar gern mit ein paar Monaten Pause bei der Judenverfolgung.
Seitdem ist der Missbrauch sportlicher Show-Events zur Imagepolitur von Gewaltregimen politische Routine geworden. Leistungsbereite, vorher und hinterher in die Kameras lachende junge Leute färben nun mal positiv ab, auf die, die sie eingeladen haben; ob Militärjuntas, wie seinerzeit bei der Fußball WM in Argentinien oder neulich bei Olympia die neue Weltmacht China, die ihre brutale Tibet-Politik vergessen machen will.
Nur wenn Weltmächte sich gegenseitig auf die Hörner nehmen, klappt es auch mit dem Boykott: so bei dem Rumpf-Olympiaden von Moskau 1980 und Los Angeles 1984.
Das Zusammentreffen deutscher Autohelden mit deutschen Panzern in Bahrein wird rasch vergessen sein. Denn eine Fußball-EM verhält sich zu einem Formel 1-Lauf etwa wie ein Mähnenlöwe zum Hauskater. So um die 20 Millionen Hobby-Bundestrainer werden hoffen und bangen, wie es unseren Jungs in der Ukraine ergeht. Alle wollen wir am 1. Juli, 20.45 Uhr beim Endspiel im Stadion von Kiew den Sack zubinden.
Da passt es überhaupt nicht, dass jetzt, acht Wochen vorher, das nervende Wort Boykott immer lebhafter die Runde macht. Weshalb? Weil sich während der Vorbereitungsjahre ein übel riechender Korruptionssumpf ausgebreitet hat? Ich bitte Sie! Tierschützer wollten einen Boykott schon länger, weil EM-bedingt massenhaft herrenlose Hunde und Katzen eingefangen und getötet worden sind. Mehr als höfliches Schweigen ist dazu von der Fangemeinde der Herren Löw, Neuer oder Götze nicht zu erwarten.
Jetzt allerdings wird es etwas komplizierter. Der ukrainische Präsident hat seine wichtigste Rivalin in einem absurden Schauprozess verurteilen und langjährig einsperren lassen. Die Frau wiederum greift, PR-erfahren, wie sie ist – und wohl auch wirklich verzweifelt – zum Mittel des Hungerstreiks. Ganz abgesehen von den tiefen Gräben, die die Volksgruppen im Osten und Westen der Ukraine trennen: so eine Sache geht unter die Haut, auch international. Der tägliche Wetterbericht aus unserem EM-Hauptquartier, demnächst in der Tagesschau gleich nach dem medizinisch-politischen Bulletin über den Zustand einer prominenten Gefangenen im Hungerstreik, das ist eine explosive Mischung.
Aber wenn, dann müsste es so sein. Wir hätten es abermals zu lernen. Die Machthaber rund um den Globus nutzen den Spitzensport eben auch als Streusandbüchse für die Augen der Menschheit, nach wie vor. Aber es ist möglich, sie zu entlarven.
Zu einem Boykott von Fußball-Nationalmannschaften wird es kaum kommen. Aber der andere Boykott, der sich abzuzeichnen beginnt, hat es durchaus in sich: ein Präsident, ein Regierungschef und Minister nach dem anderen tun kund, man werde nicht zum Phototermin bei dem skrupellosen Kollegen erscheinen. Solange es nicht um Hitlers oder Vergleichbare geht, ist das womöglich das wirksame Mittel der Wahl.
4.283 Zeichen; 24.04. 2012