Also, einen Sonnenbrand habe ich mir 2014 nicht geholt, nicht zu Pfingsten, erst recht nicht im verregneten August. Und seit zwei Tagen lasse ich notgedrungen sogar das Fahrrad stehen. Denn das Thermometer vor dem Küchenfenster pendelt um die Nullmarke. Handschuhe und Schal sind angesagt, drei Zentimeter Schnee; gut, nachmittags eher Schneematsch, morgens dafür überfrorene Nässe. Das Sturzrisiko für die alten Knochen ist zu hoch.
Da klingt die Silvesterbotschaft vom wärmsten Jahr seit Beginn der regelmäßigen Wetteraufzeichnungen Anno 1871 ein bisschen weit her geholt. Auch die erstmalige Zehn vor dem Komma bei der Jahres-Durchschnittstemperatur, 10,3 Grad Celsius, reißt mich nicht augenblicklich vom Hocker. Da war der erste Hundertmeterlauf unter zehn Sekunden irgendwie spektakulärer. Überhaupt: was soll ich gegen 10,3 Grad haben? Dazu kann ich mir einen Tag Ende Februar mit den ersten Kätzchen am Zweig vorstellen, oder einen sonnigen Vormittag im Goldenen Oktober. Die Medienleute machen wirklich aus jeder Mücke einen Elefanten.
Der da so begriffsstutzig daher nörgelt, das ist der alte Homo sapiens mit seiner Froschperspektive, der wohl in jedem von uns überlebt hat. Buchstäblich der Alte, dessen Antennen für seine Umwelt zwar hoch empfindlich waren, der aber einen hausgemachten globalen Klimawandel im rasenden Tempo unserer Tage in seinen vielleicht 40.000 Erdenjahren noch nie erkennen, analysieren und bewältigen musste.
Gut, unseren tausendmal-Ur Großeltern ist schon mal ein Vulkan um die Ohren geflogen. Ihnen sind Gletscher, gemessen an menschlicher Lebenszeit, unwiderstehlich aber recht gemächlich auf den Leib gerückt. Aber diesen Ärgernissen konnten sie ausweichen, zu Fuß. Platz und Nahrungsquellen gab es ja genug. Allerdings auch schon Konfliktpotentiale, selbst wenn die Jagd- und Sammelgebiete benachbarter Horden so weit auseinander lagen, wie heute ICE-Haltestellen. In der Ferne etwas Besseres als den Tod zu finden, durften und mussten unsere Ahnen immer hoffen, wenn ihre Heimat sie nicht mehr nährte.
Dieses „so schlimm wird es schon nicht werden“ hat sich in unserem Seelenleben eingenistet, weil es sich eigentlich bewährt hat. Keiner der Altvorderen konnte sich leiten lassen von einem Wissen, das er und sie nicht hatten und das sie auch nicht brauchten; dass nämlich die elementaren Lebensansprüche von neun bis zehn Milliarden Menschen und ihren Mitgeschöpfen weltweit nur innerhalb eines ziemlich schmalen Temperaturkorridors erfüllt werden können; so, wie auch der einzelne Mensch nur in einem biologischen Korridor von vielleicht zehn Grad Celsius Körpertemperatur gesund sein oder von Krankheit wieder geheilt werden kann.
Wir können nicht mehr à la Steinzeit unsere sieben Sachen schnüren, wenn dem Klimawandel geschuldet Saat- und Erntezyklen zusammenbrechen, wenn Wasserkreisläufe und Bodenfruchtbarkeit unheilbar Schaden genommen haben, wenn das Wetter verrückt spielt. Jeder Net-Nutzer kann sich nach ein paar Klicks erklären lassen, was ihm sein Unbewusstes eher ausreden möchte: die zwei Grad über Normal, die wir uns 2014 in Straßencafés und Schrebergärten gern haben gefallen lassen, sind ein Vergnügen, für die einstweilen andere die Rechnung zahlen. Andere, die dort leben, wo die naturwissenschaftlichen Zwangsläufigkeiten des Klimawandels sich bereits auswirken in weiterer Verarmung und Fluchtwellen. Aber diese Galgenfrist für unsere Breitengrade läuft aus.
2015 wird es in Paris heißen: Topp oder Flopp, was eine politische Verabredung der Völker zur Bändigung des Klimawandels innerhalb des Lebenskorridors angeht. Die Silvestermeldung vom ersten 10 Grad-plus Jahr der Geschichte, ist da wohl die Tacheles-Sprache, die wir brauchen. Auch wenn der Steinzeitmensch tief in mir drinnen etwas schwer von Begriff ist.