Ich war ein Märchenkind. Meine Mutter machte den Anfang. Noch an ihrem Todestag – so erfuhr ich von Verwandten – las sie dem Fünfjährigen aus Grimms Märchen vor. Einige Märchen wirkten weiter als frühe Erfahrungen. „Von Einem der auszog, das Fürchten zu lernen“ ist so eines.
Und wann immer ich Kindern in recht verschiedenen Ecken der Welt spontan eine Mutmachergeschichte zum Thema „Lass dich nicht unterkriegen“ erzählen sollte, hatten die „Bremer Stadtmusikanten“ ihren Auftritt. Esel, Hofhund, Katze und Hahn boxen sich durch und schlagen schließlich eine ganze Räuberbande in die Flucht. Ihr unsterbliches Motto: „Etwas besseres als den Tod findest du überall“. Dieses Märchen zündete, mitunter trotz Doppelübersetzung, bei indischen Landarbeiterkindern, in einer Schulhütte im Osten des Kongo und bei uns im Kohlenpott.
Warum also nicht unseren Märchenschatz durchforsten auf der Suche nach einer bildungspolitischen Leihgabe, einem lockeren Motto für die geplante Mitmachaktion einer der großen Eine-Welt-Initiativen unserer Kirche? Um globale Ernährungsgerechtigkeit soll es gehen, um unser Tun und und Lassen im Alltag, um Landraub, Dumpingexporte, Klimafrevel;
vor allem um die Bereitschaft, als kleine Leute gegen all das aufzustehen, wie die „Bremer Stadtmusikanten“ gegen die Mächtigen, die ihnen ans Leder wollten.
Was Wunder also, dass ich auf den Vorschlag „Tischlein deck dich!“ vergnügter reagiere als auf den menschenrechtlich völlig korrekten Arbeitstitel, den das Vorhaben in dem betreffenden Hause hat. Alles richtig; aber er reißt weder die Optimisten noch die Unternehmungslustigen vom Hocker. Warum also nicht bei Jakob und Wilhelm Grimm eine Anleihe nehmen? Die beiden haben ja nicht einfach nur Märchen gesammelt wie andere Leute Briefmarken. Sie waren vorbildliche Pioniere der Demokratie und intime Kenner der deutschen Sprache. Ihnen wäre zuzutrauen, dass sie uns helfen, auf deutsch für den guten Kampf um das tägliche Brot zu mobilisieren.
So denke ich und schlage nach. „Tischlein deck dich, Goldesel und Knüppel aus dem Sack“, lautet die vollständige Überschrift. Und es geht wieder einmal, märchenwürdig, um die Heilung schwer angeknackster Beziehungen und den Sieg über hinterhältige und frevelhafte Übeltäter; diesmal verkörpert durch eine intrigante Ziege und einen diebischen, raffgierigen Wirt. Die drei Söhne eines Schneiders, zunächst Opfer der verleumderischen Ziege, bahnen sich recht unkompliziert den Weg ins erwachsene Handwerkerleben, als Tischler, Müller und Drechsler.
Die Lehrabschluss-Geschenke der beiden ersten Brüder, das „Tischlein deck dich“ bzw. der Goldesel, bringen das Unrecht, den Diebstahl ins Rollen. Aber sie sind für ein gelingendes Leben etwa so typisch wie die Sofortrente als Lottogewinn. Der Knüppel aus dem Sack, der die Sache schließlich bereinigt, wirkt da buchstäblich ein Stück handfester, als Versprechen, man werde sich im Leben schon gegen Unrecht zu wehren wissen.
Leider, das „Tischlein deck dich“ erinnert vielleicht an ein „perfect dinner“ im Pantoffelkino; all diese Kochshows, die ungebremste Genüsse für jedermann versprechen. Aber satt werden im wirklichen Leben, im gerechten Interessenausgleich mit den Mitmenschen, das ist nun nicht gerade die Botschaft dieses Schlaraffenland-Möbels.
Den kleinen Leuten des 17./18. Jahrhunderts, die sich vom lukullischen „Tischlein deck dich“ erzählten, darf man´s nicht übel nehmen. Ihre Hausmannskost füllte wahrlich keine Kochbücher. Hungersnöte waren ihrem Alltag näher als das sich automatisch erneuernde Luxusbuffet im Volksmärchen.
AD 2013 wäre das Versprechen so eines Tischleins natürlich auch menschenrechtlicher Zynismus. Die Speisesäle der Luxushotels rund um den Globus haben mit dem ehrlichen Leben, mit seinen Grundlagen nichts zu tun. Einmal in die Hände klatschen „Tischlein deck dich – das Buffet ist eröffnet?“ Das wäre eine Szene aus der Luxusklasse einer „Titanic“!
Der Tisch, an dem alle Menschen des 21. Jahrhunderts finden, was sie zum Leben brauchen, kann nun mal nur von Menschen gedeckt werden; von Menschen die planen und Hand anlegen. Es ist genug für alle da, wenn sich gewisse Tischlein nicht gar zu sehr unter Feinkost biegen, wenn nicht Zauberkräfte, sondern Vernunft und Gerechtigkeitssinn den Kurs bestimmen.
„Tischlein deck dich?“ Besser, wir decken es selber!