Fastenaktion 2013
Eigentlich will ich nur eine Flasche Milch kaufen. Aber die Supermarkt-Manager haben mir ihr Ostersortiment in den Weg geklotzt. Alle müssen wir daran vorbei. Ein kleines Gebirge aus Regalen und Drahtkörben, voll mit süßen Sachen á la Saison. Häschen und Hühnchen, Küken und Eier in allen denkbaren Farben, Formen und Größen; innen luftig-hohl oder gefüllt; mit oder ohne Alkohol-Beimischung. Klassiker sind darunter, die ich noch aus Kindertagen kenne und Schnuckerzeugs im modernen Action-Design. Bedauernswert die Eltern und Großeltern, die hier mit zucker-abhängigen Kleinen passieren müssen. Ihre Chancen auf Konsumverzicht stehen schlecht.
Fast sechs Wochen lang wird der alltägliche Einkauf mit Kindern für sie noch zur Nervenprobe werden. Ostern ist erst Ende März. Die einst von den christlichen Gemeinden ausgehende Tradition einer erlebten Fasten- bzw. Passionszeit existiert nicht mehr. Bei uns im Schatten des Magdeburger Doms sowieso nicht. Aber an Rhein und Ruhr dürften inzwischen nahezu gleiche Verhältnisse herrschen. Alles ist Ostergeschäft, überall, von Aschermittwoch bis Karsamstag! So wie alles Weihnachtsgeschäft ist, am liebsten von Allerheiligen bis Heiligabend.
Wir Alten kennen noch etwas anderes. Aber es macht wenig Sinn, darauf in nostalgischem Klageton zurück zu kommen. Der Bedeutungsschwund der Kirchen in unserer Gesellschaft, und damit auch die Verflüchtigung ihrer Deutungsautorität hat Vielem die Grundlage entzogen.
Die eigentlich recht bescheidenen Verzichtsübungen während der vorösterlichen Fastenzeit haben in meiner Kindheit noch der Sozialkontrolle unterlegen, wenigstens im Dorf. Der Wirt hatte messbar umsatzschwache Wochen. Nur die Hartgesottenen kippten vor aller Augen Bier und Korn. Für uns Kinder war Bonbon- und Kaugummiverzicht in der Fastenzeit Unterrichtsthema in der Schule. An den Mittwochabenden hatten wir evangelischen Flüchtlingskinder Präsenzpflicht bei den Passionsandachten im Kirchsaal, ungern, aber zusammen mit recht vielen Erwachsenen.
Dass war schließlich die Grundlage: ohne die Entfaltung des Leidensweges Jesu von Nazareth in diesen Wochen hätten alle kleinen Verzichtsübungen in der Luft gehangen. Ich erinnere mich an die dunkle Großartigkeit der Geschichten. Die Lieder mochte ich weniger, bis heute. Und ich weiß noch, dass ich die Wochen bis Ostern gezählt habe.
Das erste winzige Licht am Horizont hatte mit der Geschichte Jesu gar nichts zu tun. Es leuchtete auf, wenn mein Vater drei Wochen vor Ostern seine Soleier einlegen ließ. Es brauchte Zeit, damit die Salzlake die angeschlagenen Eierschalen ausreichend durchdringen konnte.
Die letzte Woche vor Ostern, die Karwoche, war beides: schwarz und erlebnisreich. Dabei konnten wir evangelischen Kinder die bunten Bilder katholischer Volksfrömmigkeit auch in uns aufnehmen. Palmsonntag, der Sonntag vor Ostern mit den grünen Zweigen überall im Dorf; keine Palmzweige, dafür Weide, Birke und Haselnuss. Die rituelle Fußwaschung am Gründonnerstag Abend in der Dorfkirche. Der Kaplan machte sich an den Füßen einiger Knechte zu schaffen. Wir meinten allerdings zu erkennen, dass die Kerle sich Kuhmist und Dreck schon zu Hause abgewaschen hatten. Das nahm dem Ritus etwas von seiner Faszination.
Eier ausblasen, bemalen und mit Aufhängern aus Nähgarn und Streichholzstückchen versehen, am Karsamstag den Osterstrauß schneiden, alles echte Highlights für Kinder, die absolut fernsehfrei aufwuchsen. Und das Erfahrungswissen, dass morgen auf den Osterhasen Verlass sein würde. Mindestens ein Schokoladenebenbild von Meister Lampe würde für jedes von uns Geschwistern im Garten zu finden sein – auch wenn die bunten Hühnereier eine Attraktion an sich waren. Seltsam, nebenbei, dass der lupenrein „heidnische“ Osterhase völlig konfliktfrei Teil des Brauchtums militant evangelischer Familien war.
Wie gesagt: ein Tatsachen-Rückblick, keine Jammer-Nostalgie. Wenn der Leidensweg Jesu für den überwiegenden Teil der Gesellschaft unbekannt und bedeutungslos geworden ist, kann er auch keine Selbsterfahrungsimpulse mehr erschließen und tragen, nicht für Erwachsene, erst recht nicht für Kinder.
Sinn macht allein der ehrliche Blick auf unsere Kirchengeschichte der letzten drei Generationen und auf unseren persönlichen Anteil an ihr. Wo klaffen da unser Tun und Lassen, unser Reden und Schweigen und der Weg Jesu derart auseinander, dass die Menschen im Heimatland der Reformation an ihren Kirchen irre werden mussten? Auf diesem bitteren Weg der Ehrlichkeit mag Neues wachsen. Keine Wiederkehr des Alten, wohlgemerkt, Neues für das 21. Jahrhundert.
Auch Neues, das seine Zeichen und Ausdrucksformen findet. Die massenhafte Beteiligung an der jährlichen Fasteninitiative „Sieben Wochen Ohne“ ist ein Indiz, mehr noch nicht.
Experimentieren fällt uns Erwachsenen dabei wohl leichter als den Kindern. Die brauchen einen Bezugsrahmen, dessen Zuverlässigkeit sie fühlen können. Dann trägt auch das kleine Abenteuer einer Zeit mit besonderen Regeln zur Vitalisierung ihrer Seelen bei. Wer´s nicht glauben mag, kann ja mal bei muslimischen oder jüdischen Nachbarn nachfragen. Viele von ihnen nehmen ihre Kinder ja noch mit auf besondere Erfahrungswege, die die Herzen und das Selbstvertrauen stark machen.