Fastenaktion 2013, 27. März
Noch fünf Tage bis Ostern. Langsam wird es Zeit, dass wir die Proviantvorräte dem erwarteten Besuch von Kindern und Enkeln anpassen. Kartoffeln zum Beispiel gehen zu Ende. Und unter den lieben Nachkommen sind einige Bürschchen mit unstillbarem Kartoffelpuffer- und Pommes-Hunger, hausgemacht à la Oma selbstverständlich.
Weil bei den gärtnernden Nachbarn nichts mehr zu holen ist, führt mein Weg in den Supermarkt. Der Kunde ist hier offensichtlich König. Sechs Sorten Kartoffeln sind Ende März im Angebot, alle handlich in Plastiknetzen präsentiert, einmal 1,5 Kilo, viermal 2,5 und einmal 4 Kilo. Mit Hilfe von Einkaufswagen und Auto auf dem Parkplatz bekommt niemand ein Problem, selbst ich nicht mit meinem Gepäckkorb auf dem Rad.
Was waren das noch für Zeiten, als Mutter unsereinen mit dem Bollerwagen zum Kartoffelbauern geschickt hat. Der hat mit Kartoffelgabel und Handgewichten auf der Waage in der Scheune abgewogen und mich mit 15 oder 25 Kilo nach Hause geschickt. Wenn er gut gelaunt war, gab es noch einen schwungvollen Nachschlag. „Komm, Jung,“ knurrte er und schwang noch mal die Gabel.
Inzwischen ist das Grundnahrungsmittel Kartoffel passgenau in eine Wertschöpfungskette eingepasst, ohne einen Hauch von Bauernromantik: Erzeuger, Verpacker, Großhändler, Einzelhändler, Verbraucher. Varianten sind der direkte Weg vom Verpacker zur Supermarktkette oder – ganz anders – vom Erzeuger zum Weiterverarbeiter, egal ob der Pommes, Klöße oder tiefgefrorene Bratkartoffeln herstellen will.
Aber ich bin ja bloß ein Mann vom Dorf, der sich nicht bei Betriebswirtschaft aufhalten, sondern seine Wahl treffen und zur Kasse gehen soll. Also lasse ich meine Verbraucheraugen ein zweites Mal über das Angebot gleiten. Prompt bleibe ich bei einem Köder hängen, der bei mir meistens verfängt. Wie der Fisch nach dem Wurm, schnappe ich nach Bio-Siegeln. Und diese Kartoffeln führen es! Kontrollblick, jawohl nur diese hier unter allen Sechsen. Ich ziehe mir das Netz näher heran und lese die Information in grünem Bio-Design: „Speisefruhkartoffeln – Ägypten, festkochend; 1,5 Kilo, aus kontrolliertem ökologischen Anbau“. Kosten soll der Spaß 1,99 Euro. Ein stolzer Preis für rund ein Dutzend Erdäpfelchen.
Fruhkartoffel, den Schreibfehler finde ich einfach nur lustig. Die deutschen Umlaute sind ja auch wirklich etwas Vertracktes. Aber Bio, das ist doch ein Argument. Oder? Allerdings fruh bzw. früh sind diese Kartoffeln nicht wirklich. Das würde ja bedeuten, dass in Ägypten auch Spätkartoffeln geerntet würden. Die Kartoffel hat auf dem alltäglichen Speiseplan der Einheimischen aber nichts zu suchen. Unter Ausnutzung des Klimas werden Kartoffeln lediglich angebaut, um in Europas Supermärkten ganz spezielle saisonale Absatzchancen zu nutzen. So die kleine Aufbruchsstimmung um Ostern herum, samt der Tatsache, dass viele Leute jetzt Kartoffeln nachkaufen müssen. Also lässt sich leicht leicht ausrechnen, wann man am Nil die sog. Fruhkartoffeln legen muss. Am Nil? Das schmale Schwemmland an seinen Ufern nährt zwar ein großes Volk. Aber ein Kartoffelacker ist es wirklich nicht.
Bleibt die Wüste. Bleiben die Luftaufnahmen aus Ägypten von einer Intensivlandwirtschaft auf Sandboden. Kreisrunde Felder, über denen gigantische Bewässerungsanlagen rotieren. Den Bio-Kartoffeln fehlt es in der Wüste nicht an Wasser. Und pestizid-frei können sie wohl auch gedeihen. Aber dieses Wasser ist Grundwasser aus den Tiefen unterhalb einer der großen Wüsten auf Erden, in Jahrzehntausenden angesammelt. Seine maßlose Ausbeutung in den letzten Jahrzehnten hat bereits nicht wieder gut zu machenden Schaden angerichtet. Das Nachtschattengewächs solanum tuberosum, zu deutsch Kartoffel, ist aber botanisch darauf eingerichtet, mit dem Regen auszukommen, der in Mitteleuropa freiwillig vom Himmel fällt. Kartoffeln von intensiv bewässertem Wüstenboden als „Bio“ ausgeben zu dürfen, ist zwar etwas, was die EU in diesem Fall erlaubt; hirnrissig und wenigstens grob fahrlässig ist es allemal.
Also schaue ich noch einmal nach, wo denn das Angebot von einheimischen Bio-Lagerkartoffeln liegt. Die gibt es doch zu zehntausenden von Tonnen. Und genießbar sind sie noch bis weit über den April hinaus. Das Angebot ist Null! Nicht nur hier, sondern landesweit sieht es so aus, als bekämen einheimische Bio-Lagerkartoffeln zu dieser Jahreszeit im Handel keine Chance. 2012 haben Bio-Kartoffelbauern ihre Ernte sogar vor Supermärkten verschenkt, um auf diesen Skandal hinzuweisen.
Wäre ich also mit meiner Bio-Motivation um ein Haar nicht nur auf fragwürdige Produktionsbedingungen hereingefallen? Soll mir hier auch noch durch ein willkürliches Monopol ein Phantasiepreis aufs Auge gedrückt werden? Mal angenommen Biobauer Schulze um die Ecke bekommt für 1,5 Kilo Kartoffeln reichlich 50 Cent. Da müsste sich für seine Ware ja wohl ein Verkaufspreis kalkulieren lassen, der mit den Wüstenwasser-Kartoffeln mithalten kann.
Nein, diesmal ist es wirklich nichts mit „Bio“. Ich greife mir zwei 4-Kilo-Beutel mit konventionellen Lagerkartoffeln, einheimische Ware. Zweimal 2,39 Euro werde ich dafür zahlen. Zweimal 10 Cent, so ein Werbeaufdruck, gehen im Rahmen einer nicht näher erläuterten Aktion „Ein Herz für Erzeuger“ in Projekte für den „Erhalt unserer Natur“. Also, diese Kundeninformation ist wahrhaftig verbesserungsfähig. Aber weniger peinlich als ein Bio-Siegel für Wüsten-Kartoffeln ist sie allemal.