Fastenaktion 2013, 6. März
Es ist purer Zufall. Beim Morgenkaffee kommen beide Radiomeldungen direkt nacheinander: das Bundeskabinett wird heute endlich seinen Armuts- und Reichtumsbericht verabschieden. Und in Berlin geht es wieder los mit der ITB, der größten Tourismusmesse der Welt.
Dass der Armutsbericht das Papier nicht wert ist, auf dem er steht, wissen nach viermonatigem Gezerre um den ersten Entwurf längst alle Wählerinnen und Wähler, die sich über ihre Stimmabgabe im September überhaupt irgendwelche Gedanken machen. CDU- WahlkämpferInnen werden diesen Bericht voraussichtlich stillschweigend übergehen – alles andere wäre politisches Harakiri. Unwiderlegbare Kennzahlen steigender sozialer Not mit dem politischen Radiergummi zu eliminieren oder sie gar mit Wortakrobatik in ihr Gegenteil umzudeuten, ist dümmer, als ich es der kleineren Regierungspartei mit ihrem extra hohem Akademikeranteil zugetraut hätte.
Ich selber kann dem Bericht entnehmen, dass der Mittelschicht-Ast, auf dem ich sitze, wohl etwas brüchiger geworden ist. Um die wirtschaftlichen Perspektiven unserer gemäß Politiker-Empfehlung erstklassig ausgebildeten und leistungsbereiten Kinder muss ich mir aber eher Sorgen machen.
Erst einmal kann ich mich in Ruhe um das touristische Urlaubsangebot kümmern. Indonesien, höre ich, ist dieses Jahr auf der Messe der Hit. Bali, wäre das. Oder ein Besuch bei den allerletzten Waldelefanten auf Sumatra, oder den Orang-Utans auf Borneo/Kalimantan. Besser kurz entschlossen jetzt reisen, bevor tüchtige Investoren ihre Wälder, so wie schon viele zuvor, in Palmölplantagen verwandeln. Die Ernte wird auch von deutschen Unternehmen und ihrer Kundschaft erwartet. In Irian-Jaya, dem indonesischen Teil von Neu-Guinea müsste ich einigen Öko-Horror und die Diskriminierung der Papua-Urbevölkerung in Kauf nehmen. Aber der Rest wäre trotzdem super.
Der Reisetrend geht endlich weg von diesen billig, billig Picke-Packe-Angeboten. Zehntausend Deutsche auf den Strandkilometer, irgendwo im östlichen Mittelmeer! Das war einmal. Die Branche heißt den zahlungskräftigeren Landsmann willkommen, der für Hotel und individuelles Programm vor Ort schon mal einen Tausender mehr hinlegt. Ich kann die Erleichterung der Manager über den Abschied vom etwas ärmlichen Sozialkunden aus der Messereportage deutlich heraushören.
Sei´s drum. Ich habe mein Lebtag keinen Urlaub im Reisebüro gekauft. Muffeligkeit und genug Alternativen haben das verhindert. Manche berufliche Verpflichtung brachte mir Eindrücke von Gottes Welt und seinen Menschen, wie sie kein Urlaubskatalog erschließen kann. Ich fand es allemal lohnender, mit arbeitenden, um ihre Existenz kämpfenden Zeitgenossen in Indien oder Ostafrika auch hin und wieder deren Feierabend oder eine Festlichkeit zu teilen, als die Scheinrealität von Touristenresorts zu konsumieren.
Kann ich also die Morgennachrichten abhaken? Ich bin weder arm noch heiß auf die „kostbarsten Wochen des Jahres“. Was mich zögern lässt, ist mein wildes Interesse an der Zukunft. Der Zukunft, die ich nicht mehr miterleben werde; an der trotzdem mein Herz hängt, um meiner Kinder und Enkel willen; und wegen all der bedrohten Schöpfungswunder, die die Einmaligkeit des Blauen Planeten im bekannten Teil des Universums ausmachen.
Soll mir bei diesem Blickwinkel wirklich egal sein, dass der Anteil der Mütter, für die jede Klassenfahrt ihrer Tochter zum Problem wird, die immer wieder als Antragstellerin Nummern ziehen und Schlange stehen muss, von Armutsbericht zu Armutsbericht größer wird? Wenn dann noch Politiker die aufmunternde Wirkung eines „Tritts in den Hintern“ für unsere armen Nachbarinnen und Nachbarn loben, dann schrillen bei mir Alarmglocken. Die tatsächlichen ExpertInnen für Fragen der Armut sind bei Lichte besehen ja weder Mächtige noch Sozialwissenschaftler, sondern die Betroffenen: „Die Wahrheit über die Katze erfährt man von den Mäusen.“
Deren bittere Erfahrungen bilden auch den Kontrast zu den Jubelgesängen der Tourismusbranche über den Andrang der zahlungskräftigeren Kunden. Was sagen eigentlich die HartzIV-Bestimmungen über Urlaubsreise-Ansprüche unserer Armen? Nada, Niente, Nix! Wäre ja noch schöner, höre ich manchen schimpfen, der wie ich jährlich seine Einkommensteuererklärung einreicht. Dabei hämmert uns die Werbung während der teuersten Minute unmittelbar vor den Abendnachrichten Abend für Abend ein: „Willst du mit mir in den Urlaub fahren?“ Ja – aber ich kann auch das günstigste aller Angebote nicht bezahlen. Sich den Urlaub leisten zu können: in unserer Gesellschaft ist das so etwas wie der elementarste wirtschaftliche Tüchtigkeitsnachweis geworden.Wer keine Lust auf käuflichen Urlaub hat – okay! Wer aber gerne auch mal am Strand liegen möchte, aber arm zu Hause bleiben muss – bitter! Der Kreis dieser Deklassierten zählt längst nach Millionen. Es sollte mich wundern, wenn diese Tatsache in dem „Bericht“ Erwähnung fände .