Ein unglaubliches Gefühl! Als notorischer Frühaufsteher gehe ich um 6.15 Uhr runter zum Briefkasten. Und drinnen liegt bereits meine Tageszeitung. Was Millionen Nachbarinnen und Nachbarn nicht weiter bemerkenswert finden, ist für mich noch ein unglaublicher Kick. Denn bis letzte Woche kam meine Zeitung 13 Jahre lang mit der Post. Bei uns auf dem Dorf heißt das, irgend wann am Nachmittag oder auch gar nicht. Dafür darf ich dann morgen die News von vorgestern und gestern konsumieren.
Bereits zur Abo-Kündigung entschlossen, hören wir dann, dass unser Leib- und Magenblatt neuerdings auch durch Botendienst bezogen werden kann. Wir können es kaum glauben, aber den Versuch ist es wert. Was soll ich sagen: am ersten Bezugstag schaut meine Frau um 8.30 Uhr eher skeptisch in den Briefkasten. Siehe da, unsere weit gereiste Zeitung! An den folgende Tagen suche und finde ich mein Glück um 7.30 und um 7.00 Uhr. Und eben war es 6.15 Uhr. Wenn mein anonymer Bote ein Hiesiger ist, muss er meine Zeitung ja wohl vorher von einer Servicestelle in der nahen Großstadt abgeholt haben. Kommt er selbst aus der Stadt, dann hat sich sein Zustellbezirk um einiges erweitert.
Da wie gesagt Frühaufsteher, werde ich es darauf anlegen, das Heinzelmännchen respektive – Frauchen, das uns neuerdings zu Diensten ist, bald einmal kennenzulernen.
Ich werde sie oder ihn dann nicht gleich mit der Frage überfallen, die angesichts der schrägen Arbeitszeit besonders nahe liegt: „Bekommen Sie inzwischen die 8,50 € gesetzlichen Mindestlohn? Oder werden Sie weiter mit 6,37 € abgespeist, weil Sie ausschließlich Zeitungen verteilen?“
Das ist ja, wie jeder wissen kann, eine der schlimmen Ausnahmen bei dem hoch gelobten Gerechtigkeitsprojekt Mindestlohn: nur wer mindestens hin und wieder auch Werbeprospekte mit in die Briefkästen stopft, ist mindestlohnberechtigt. Für die anderen der ungefähr 300.000 Zeitungs-Zuträgerinnen gilt 2015 der Taschengeldtarif, 25% unter MINDEST-Lohn.
Wenn ich die hoch hängenden gesellschaftlichen Ansprüche der Zeitungsredaktion, um die es geht, mal herunterbreche auf die späte Nacht und den frühen Morgen – nicht nur wenn die Frühlingssonne aufgeht und die Vogelmännchen singen, sondern auch bei jedem Dreckwetter – kann ich mir eigentlich nicht vorstellen, dass man sich dann beim Vertrieb eine krasse sozialpolitische Blöße geben wird. Aber nachfragen muss ich.
Das bin ich allein schon der alten Frau aus meinem Bekanntenkreis schuldig, die sich vor zwei Monaten als Zeitungsbotin ihre Gesundheit durch einen schweren Fahrradunfall bei Glatteis ruiniert hat.